Vidal Wagner

vidal wagner

Barrierefreiheit in Deutschland: Mythen und Realität
La accessibilitat a Alemanya: mites i veritats

Wenn wir über Architektur in Deutschland sprechen, können wir dies unabhängig von den möglichen ästhetischen oder formalen Merkmalen mit der Strenge, Genauigkeit oder Zielstrebigkeit des Deutschen Stereotypes in Verbindung bringen. Ausgehend von dieser Grundlage wäre zu erwarten, dass ein so heikles Thema wie die Barrierefreiheit vollständig in die Berufspraxis, in die Vorschriften und in die Verwaltungsverfahren für die Beantragung einer Baugenehmigung integriert ist. Leider ist dies nicht der Fall und tatsächlich sind die Anforderungen und vor allem das Bewusstsein hinsichtlich Barrierefreiheit in Katalonien derzeit stärker ausgeprägt als in Deutschland. Schauen wir uns an, warum das so ist.

Es ist bekannt, dass die nordischen Länder und insbesondere Deutschland schon immer über einen detaillierten und strengen Regulierungsrahmen verfügten. Allerdings hat sich dieser Regelungsrahmen in den letzten fünfzehn Jahren hinsichtlich seiner Anwendung geändert, da die Beantragung einer Baugenehmigung oder einer Nutzungsänderung nicht immer einer Prüfung unterliegt. Der Grund liegt in der Erleichterung des bürokratischen Prozesses durch das sogenannte „vereinfachte (Baugenehmigungs) Verfahren“. Bei diesem Verfahren werden ausschließlich die planungsrechtlichen (städtebaulichen) Kriterien und nicht die technischen Vorschriften bzw. das Bauordnungsrecht geprüft. Anders gesagt, es ist so wie wenn in Katalonien die Projekte ohne Berücksichtigung des “Código Técnico de la Edificación (CTE) genehmigt werden könnten. Die Typologie der Gebäude, die durch dieses Verfahren bearbeitet werden können, ist sehr unterschiedlich: vom Einfamilienhaus über Mehrfamilienwohnhäusern bis hin zu Gewerbe- oder Industrieanlagen sowie viele anderen Bauwerken solange bestimmte Volumen- und/oder Benutzerhöchstwerte nicht überschritten werden. Andere Arten von Geräten durchlaufen direkt während ihrer Verwendung einer vollständigen Prüfung durch die Bauaufsichtsbehörde. Bei den vereinfachten Verfahren, die keiner Überprüfung durch die Verwaltung unterliegen, liegt die Verantwortung für die Einhaltung der technischen Vorschriften ausschließlich beim Architekten. In diesem Sinne hängt die Barrierefreiheit des betreffenden Projekts in einem vereinfachten Verfahren von der Sensibilität des Projektträgers oder des Architekten ab, und vom Glück keine Beschwerde von einem zukünftigen Benutzer zu erhalten, der sich seiner Rechte bewusst ist.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in Deutschland noch viele Gebäude gibt, die während des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden. Diese Konstruktionen zeichnen sich unter anderem durch die Errichtung eines Zwischengeschosses bzw. Hochparterre aus, oft ohne die Möglichkeit, einen Aufzug einzubauen – auch nicht nachträglich. Tatsache ist, dass der Komfort und die Zugänglichkeit bei den Nachkriegswohnungen nicht berücksichtigt wurden. Im Laufe der Jahre sind vielfältige technische Regelwerke entstanden, insbesondere die bekannten DIN-Normen (Deutsches Institut für Normung), darunter auch solche, die die Barrierefreiheit von Gebäuden und öffentlichen Räumen regeln. Diese Vorschriften waren in Deutschland bereits deutlich anspruchsvoller als in anderen Ländern. Doch gerade wegen ihrer Strenge fanden die deutschen Barrierefreiheitsstandards keine breite Akzeptanz. Es ist zu beachten, dass die meisten DIN-Normen als Empfehlungen gelten und bis vor einigen Jahren nicht gesetzlich in den verbindlichen Bauordnungen aufgenommen waren. Bei den derzeit geltenden Barrierefreiheitsverordnungen sind die DIN 18040-1 (öffentliche Bauten) und die DIN 18040-2 (Wohnen) einzuhalten, sowohl in öffentlich zugänglichen Gebäuden als auch im Wohnungsbau. Es gibt jedoch noch einen weiteren Nachteil. Für die Einhaltung der Vorschriften gibt es eine Gesetzeslücke: Im Falle eines unverhältnismäßigen  Mehraufwand wegen  ungünstige vorhandene Bebauung, Einbau eines sonst nicht erforderlichen Aufzuges oder ungünstige topografische Verhältnisse, kann die Bauherrschaft auf die Einhaltung der Barrierefreiheitsvorschriften verzichten. Dies geschieht logischerweise insbesondere bei Nutzungsänderungen und bei der Sanierung eines Bestandsgebäudes und nicht beim Neubau.

Allerdings ist anzumerken, dass die Vorschriften für barrierefreies Bauen auch in so grundlegenden Fragen wie die Notwendigkeit barrierefreie Sanitärräume bei der Gestaltung einer Gaststätte vorzusehen, viel lascher als in Katalonien sind. In diesem Sinne garantieren die heutigen Vorschriften nicht, dass eine Einrichtung mit weniger als 200 Nutzern barrierefreie Sanitärräume vorsehen, da es diese dann nicht in die Kategorie der Sonderbauten fallen würden. Interessanterweise gab es früher hierfür Regelungen, die jedoch aufgehoben wurden. Dennoch sind unter Berufung auf die Nebenbestimmungen in der Regel Räumlichkeiten mit mehr als 50 m² oder mit mehr als 50 Sitzplätzen auf Sanitäreinrichtungen angewiesen. Interessanterweise gibt es Bundesländer in denen die Notwendigkeit, Sanitärräume bis zu diesen Flächengrenzen vorzusehen, davon abhängt, ob in den Räumlichkeiten alkoholische Getränke ausgeschenkt werden oder nicht …

An dieser Stelle ahnt sicher schon mehr als einer den Grund für die Diskrepanz zwischen den Vorschriften und der Realität. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Deutschland der „Motor Europas“ ist, wenn es für dem Unternehmer so viele Erleichterungen gibt. Daher ist die Anpassung einer Stadt wie Frankfurt an ein barrierefreies Stadtmodell, insbesondere im privaten Sektor, ein langsamer Prozess. Darüber hinaus ist diese Tatsache nach wie vor ein wichtiger Indikator für den Grad der Beteiligung der Sozialpolitik an den Rechten und Pflichten der Arbeitgeber und, wie der Druck zur raschen Entbürokratisierung dazu führt, dass oft wirtschaftliche Faktoren letztendlich Vorrang vor sozialen Inklusionsfaktoren haben. In diesem Sinne haben wir mit Barcelona ein nahezu einzigartiges Beispiel transversaler Barrierefreiheit, bei dem sich Maßnahmen öffentlicher Natur, insbesondere in der Stadtplanung und im Verkehr, und die notwendige Einbindung des Privatsektors ergänzen. Und es zeigt sich einmal mehr, dass die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft ein multifaktorielles und langfristig nachhaltiges Konzept ist und dass heutige Einsparungen bei der Barrierefreiheit morgen teuer ausfallen können.

Artikel für den Blog der Auslandskorrespondenten der Architektenkammer Katalonien (COAC) September 2016